Wenn Paradigmen den Konflikt bestimmen – und wie Mediation neue Sichtweisen öffnet
Konflikte entstehen selten aus dem Nichts. Meistens prallen nicht nur unterschiedliche Interessen aufeinander, sondern vor allem unterschiedliche Sichtweisen, Erwartungen und Denkrahmen.
In der Mediation nennen wir diese oft verborgenen inneren Landkarten Paradigmen. Sie entscheiden darüber, wie Menschen Konflikte wahrnehmen, bewerten und bearbeiten – und sie bestimmen maßgeblich, ob eine Lösung überhaupt denkbar ist.
Doch was genau sind Paradigmen? Warum spielen sie eine so große Rolle? Und wie können Mediator:innen damit umgehen?
1. Was sind Paradigmen? Unsichtbare Filter, starke Wirkung
Paradigmen sind tief verwurzelte Grundannahmen darüber, wie die Welt funktioniert.
Sie wirken wie mentale Brillen, durch die wir Situationen, Aussagen und Verhalten interpretieren.
Paradigmen können geprägt sein durch:
- Erziehung
- Kultur und Herkunft
- Berufliche Sozialisation
- Persönliche Erfahrungen
- Rollenbilder
- Fachlogiken
- Psychologische Grundüberzeugungen
- Organisationskulturen
Sie sind unsichtbar, wirken aber ständig – oft unbewusst.
Wir merken erst dann etwas von ihnen, wenn jemand eine andere Brille trägt.
Beispiele für Paradigmen, die Konflikte prägen:
- „Konflikte sind gefährlich – man sollte sie vermeiden.“
- „Wer zuerst nachgibt, verliert.“
- „Ich muss die Kontrolle behalten.“
- „Hierarchien entscheiden.“
- „Emotionen gehören nicht in professionelle Gespräche.“
- „Es gibt nur eine richtige Lösung.“
Solche tief sitzenden Muster steuern Erwartungen, Wahrnehmungen, Gesprächsverhalten – und damit auch Konfliktdynamiken.
2. Paradigmen als Konfliktverstärker
Viele Konflikte eskalieren nicht wegen des Sachinhalts, sondern wegen der unterschiedlichen Deutungsmuster der Beteiligten.
A) Wie das Paradigma die Wahrnehmung verzerrt
Zwei Personen hören denselben Satz – und doch etwas völlig anderes.
Paradigmen entscheiden, ob wir etwas als Kritik, Angriff, Chance oder Einladung verstehen.
B) Wie Paradigmen Konfliktstrategien bestimmen
Menschen reagieren im Konflikt nicht nach Zufallsprinzip.
Ihr Paradigma legt fest, ob sie kämpfen, vermeiden, verhandeln oder kooperieren.
C) Wie Paradigmen den Lösungsraum begrenzen
Wenn jemand im Schwarz-Weiß-Denken feststeckt, sieht er nur zwei Optionen: „Ich hab recht – oder du“.
Mediation öffnet hier die Möglichkeit, neue Räume zu entdecken.
Oft ist der Knoten erst gelöst, wenn ein Paradigma flexibler wird.
3. Paradigmen in der Mediation: Zwischen Einfluss und Verantwortung
Paradigmen prägen nicht nur Mediand:innen – sondern auch Mediator:innen.
Auch wir arbeiten nicht außerhalb unserer Überzeugungssysteme.
Beispielsweise:
- Ein stark lösungsorientiertes Paradigma kann dazu führen, zu früh in die Lösungsphase zu gehen.
- Ein konfliktschonendes Paradigma kann verhindern, dass notwendige Klärungsarbeit geschieht.
- Ein rationalistisches Paradigma kann emotionale Aspekte übersehen – oder abwerten.
- Ein harmoniestrebendes Paradigma kann Konfrontation vermeiden, obwohl sie wichtig wäre.
Professionelle Mediation braucht daher Selbstreflexion:
Unter welchem inneren Modell arbeite ich – und wie beeinflusst das meine Allparteilichkeit?
4. Wie Mediator:innen mit Paradigmen arbeiten können
1. Sichtbarmachen
Paradigmen wirken, solange sie unbewusst bleiben.
Deshalb ist ein zentraler Schritt der Mediation, sie beobachtbar zu machen – ohne sie zu bewerten.
Hilfreiche Werkzeuge sind:
- zirkuläre Fragen
- Perspektivwechsel
- Reframing
- Visualisierungen
- Skalierungsfragen
- Metapositionen (z. B. hypnosystemische Steuerposition)
- Strukturmodelle wie DSRP (Cabrera)
2. Entpathologisieren
Es geht nicht darum, Paradigmen als „falsch“ darzustellen.
Sondern zu verstehen: Unter welchem inneren Bild ergibt dieses Verhalten Sinn?
Diese Haltung schafft Wertschätzung und Deeskalation.
3. Flexibilisieren
Paradigmen müssen nicht abgeschafft werden – sie brauchen nur mehr Beweglichkeit.
Mediation ermöglicht neue innere Modelle, etwa durch:
- Ideenexperimente
- Ressourcenaktivierung
- das Erarbeiten alternativer Geschichten („Reauthoring“)
- Zukunftsprojektionen
- kreative Lösungsräume
Wenn die Sichtweise flexibler wird, wird auch der Umgang miteinander flexibler.
4. Neue Narrative entwickeln
Konfliktgeschichten sind oft eng.
Mediation lädt dazu ein, neue Bedeutungsräume zu schaffen:
„Nicht der Konflikt an sich ist das Problem – sondern wie wir darüber sprechen.“
Diese Neuorientierung wirkt oft nachhaltiger als jede einzelne Lösungsidee.
5. Beispiele aus der Praxis (anonymisiert)
Fall 1: Der Führungskonflikt – „Führung heißt Härte zeigen“
Ein Teamleiter glaubte, dass Anerkennung Schwäche bedeutet.
Erst als dieses Führungsparadigma sichtbar wurde, konnte er eine neue Haltung entwickeln.
Die Mediation veränderte nicht nur den Konflikt, sondern die Teamkultur.
Fall 2: Die Familienmediation – „Es gibt nur eine richtige Lösung“
Ein Elternpaar steckte fest, weil beide überzeugt waren, die einzig „logische“ Lösung zu kennen.
Durch Perspektivwechsel entstand ein dritter Weg – keiner hatte vorher daran gedacht.
Fall 3: Das Paradigma des Mediators
Ein Mediator wollte unbedingt Lösungen ermöglichen und übersprang die Klärungsphase.
Die Reflexion seines eigenen Paradigmas führte zu einer entscheidenden Neuorientierung im Verfahren.
6. Warum Paradigmenarbeit Mediation so wirkungsvoll macht
Mediation ist nicht nur ein Verfahren zur Konfliktlösung.
Sie ist ein Raum der Bedeutungs- und Perspektivarbeit.
Paradigmenarbeit ermöglicht:
- echte Klarheit
- Wertschätzung für unterschiedliche Sichtweisen
- Erweiterung des Lösungsraums
- Verantwortung für das eigene Handeln
- nachhaltige Vereinbarungen
- Stärkung der Selbstwirksamkeit
Wer seine inneren Modelle kennt und flexibilisieren kann, bleibt nicht mehr im Konfliktmuster gefangen.
Mediation eröffnet damit nicht nur neue Wege der Problemlösung – sondern auch neue Wege der Begegnung.
Fazit
Paradigmen sind die unsichtbaren Architekt:innen unserer Wahrnehmung.
Sie erklären, warum Konflikte oft festgefahren sind und warum Mediation wirken kann.
Indem Mediator:innen Paradigmen sichtbar machen, flexibilisieren und neue Perspektiven ermöglichen, begleiten sie Menschen zu Lösungen, die vorher undenkbar schienen.
Konflikte verändern sich, wenn sich die Sicht auf sie verändert.
Und genau dort beginnt Mediation.


