Wahrheit in der Mediation – oder warum es oft mehrere gibt
„Ich will nur, dass die Wahrheit endlich ans Licht kommt!“
Diesen Satz höre ich in Mediationen immer wieder. Er ist verständlich – schließlich steckt hinter vielen Konflikten der Wunsch nach Klarheit, nach einer objektiven, unumstößlichen Feststellung, wer Recht hat und wer nicht.
Doch die Mediation ist kein Gerichtssaal, und die Wahrheit ist in Konflikten selten ein einzelner, sauberer Kristall. Sie ist eher ein Kaleidoskop, das je nach Blickwinkel ein anderes Muster zeigt.
1. Die Sehnsucht nach der „einen Wahrheit“
In angespannten Situationen klammern sich Menschen gerne an den Gedanken, dass es irgendwo eine neutrale Instanz gibt, die das Geschehen „richtig“ einordnet. Diese Sehnsucht hat viel mit Sicherheit zu tun: Wenn wir glauben, es gäbe nur eine Wahrheit, dann müsste es auch eine klare Lösung geben.
Doch gerade in zwischenmenschlichen Konflikten zeigt sich: Die Wirklichkeit ist nicht immer eindeutig, und die eigene Sicht ist selten die vollständige.
2. Wahrheit vs. Wirklichkeit
Oft hilft es, zwischen objektiver Wahrheit und subjektiver Wahrheit zu unterscheiden.
- Objektive Wahrheit meint das, was überprüfbar ist: Daten, Uhrzeiten, physische Abläufe.
- Subjektive Wahrheit ist das, was eine Person erlebt, wahrnimmt und erinnert.
Das Problem: Selbst objektive Fakten werden subjektiv gefiltert. Wir erinnern uns selektiv, blenden Details aus, interpretieren Handlungen auf Basis unserer eigenen Geschichte.
In der Mediation erlebe ich häufig Situationen, in denen beide Parteien von ganz unterschiedlichen Ereignissen sprechen – und dennoch beide „recht“ haben, weil sie über ihr eigenes Erleben berichten.
3. Mehrere Wahrheiten gleichzeitig
Das Konzept der Mehrdeutigkeit ist in der Mediation zentral. Zwei Menschen können dieselbe Situation erleben und daraus völlig verschiedene Geschichten machen – nicht, weil einer lügt, sondern weil Wahrnehmung immer selektiv ist.
Ein Beispiel: Ein Kollege sagt, er habe eine wichtige Information rechtzeitig weitergegeben. Die Kollegin ist überzeugt, nie etwas erhalten zu haben. Beide empfinden ihre Aussage als wahr.
In der Mediation geht es nicht darum, zu entscheiden, welche Geschichte „richtiger“ ist, sondern darum, zu verstehen, wie beide Perspektiven entstanden sind.
4. Die Rolle des Mediators
Der Mediator ist kein Richter und keine Wahrheitskommission. Er steht nicht über den Parteien, um festzustellen, wer „die Wahrheit gepachtet“ hat.
Seine Aufgabe ist es, alle Wahrheiten nebeneinander stehen zu lassen, um gegenseitiges Verständnis zu fördern.
Das gelingt mit Techniken wie:
- Aktivem Zuhören: Die Sichtweise des anderen vollständig erfassen
- Paraphrasieren: In eigenen Worten wiedergeben, um Missverständnisse aufzudecken
- Spiegeln: Emotionen und Kernbotschaften sichtbar machen
Besonders heikel ist der Umgang mit Aussagen, die nachweislich falsch sind. Hier ist Fingerspitzengefühl gefragt. Oft kann man die Aussage in den Kontext des Erlebens einordnen, ohne die Person bloßzustellen.
5. Wenn Fakten doch wichtig werden
Natürlich gibt es Situationen, in denen harte Fakten entscheidend sind – etwa bei Vertragsfragen, Zahlen oder Terminen.
Hier grenzt sich die Mediation von der juristischen Beweisaufnahme ab. Wir suchen keine Schuldigen, aber wir dürfen klären, was nachweislich geschehen ist, wenn es für die Lösung relevant ist.
Manchmal hilft es, externe Expertise einzubeziehen – etwa durch ein Gutachten oder die Sichtung von Dokumenten. Der Unterschied: Wir tun dies nicht, um eine Partei zu entlarven, sondern um die Basis für eine einvernehmliche Lösung zu schaffen.
6. Chancen und Risiken des Wahrheitsbegriffs
Die Chancen:
- Wenn beide Parteien verstehen, dass es verschiedene Wahrheiten gibt, können sie neugierig auf die Perspektive des anderen werden.
- Dies schafft Empathie und öffnet den Raum für neue Lösungswege.
Die Risiken:
- Wer auf „seine“ Wahrheit besteht, kann ungewollt Gräben vertiefen.
- Der Kampf um die Deutungshoheit („Wer hat recht?“) blockiert Verständigung und verlängert den Konflikt.
Manchmal löst sich eine Mediation erst, wenn beide Seiten akzeptieren: Wir müssen uns nicht auf eine einzige Wahrheit einigen, um eine gemeinsame Zukunft zu gestalten.
7. Fazit: Die Wahrheit als Brücke – nicht als Waffe
In der Mediation ist Wahrheit kein Schlaginstrument, um den anderen zu besiegen. Sie ist ein Werkzeug, um den eigenen Standpunkt zu erklären und die Sicht des anderen zu verstehen.
Das Ziel ist nicht, den einen, universellen Wahrheitskern freizulegen, sondern eine Verständigung zu erreichen, die beiden gerecht wird.
Oder, um es mit einem oft zitierten Satz zu sagen:
„Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen sie, wie wir sind.“ – Anaïs Nin
Wenn wir das begreifen, können wir die Wahrheit aus den Fesseln des „Rechthabens“ befreien und als Brücke nutzen – hin zu einer Lösung, in der beide Perspektiven Platz haben.