Von der Konfliktepisode zum Machtkonflikt
Wie entwickeln sich Konflikte? Das ist eigentlich die falsche Fragestellung. Konflikte entwickeln sich nicht. Die Konfliktbeteiligten sind es selbst, die den Konflikt entwickeln. Er ist auch nicht irgendwie entstanden, wir haben alles dafür getan, damit er entsteht. Und wenn die Mediand*innen zu mir kommen und sagen: „Wir haben einen Konflikt!“, so wäre ja die einfachste Antwort: „Wenn Sie ihn nicht haben wollen, dann legen Sie ihn doch einfach dort in den Mülleimer!“. Die Begeisterung für diese geniale Antwort wird sich wohl in Grenzen halten.
Also, wie beginnen wir einen Konflikt? Wir brauchen – welch Wunder – zumindest zwei Personen dafür, die miteinander kommunizieren. Konflikte stellen selbst ein soziales System dar, das im Sinne Luhmanns ausschließlich aus Kommunikation besteht. Üblicherweise kommunizieren wir mit Zustimmungserwartung. Wir sind irritiert, wenn die erwartete Zustimmung ausbleibt und es zur Widerspruchskommunikation kommt. Das ist aber nicht schlimm, das passiert uns sehr oft. Ob wir einen Konflikt daraus entwickeln, hängt dann von der weiteren Kommunikation ab. Wird der Widerspruchskommunikation dann im dritten Zug widersprochen, so zeigt sich bereits hier die Unnachgiebigkeit der Person, die die Kommunikation eingeleitet hat. Wir manifestieren dann den das Konfliktgeschehen, wenn dann diese Unnachgiebigkeit ihrerseits mit Unnachgiebigkeit beantwortet.
In der Praxis kann das dann so aussehen:
1. Zug: “Wollen wir heute Abend ins Kino gehen?” – alles ist offen
2. Zug: “Nein, gehen wir doch lieber ins Theater!” – Ups, unerwarteter Widerspruch
3. Zug: “Du weißt doch, dass ich Theater langweilig finde!” – A wird stur
4. Zug: “Kino ist doch nur was für Proleten!” – B wird auch stur
So, und jetzt können unsere Protagonisten den Konflikt anheizen und mit dem gemütlichen Abend ist es vorbei.
Bis jetzt haben wir es lediglich mit einer Konfliktepisode zu tun. Diese treten in sozialen Systemen sehr oft auf. Die überwiegende Anzahl dieser Episoden wird kurzfristig beendet, ohne dass der Konflikt eskaliert wird. Heinz Messmer identifiziert in seinem Buch „Der soziale Konflikt – Kommunikative Emergenz und systemische Reproduktion“ 2003) fünf grundlegende Stopp-Mechanismen, die im Alltag greifen, um Konflikte zu beenden:
1. Stehen lassen
– Der Konflikt wird einfach nicht weiter verfolgt. Die meisten Episoden enden auf diese Weise – über zwei Drittel werden durch ein „Nicht‑Weitermachen“ beigelegt.
2. Unterwerfung
– Eine Partei gibt nach, stimmt der anderen zu und beendet so die Episode.
3. Kompromiss
– Die Kontrahierenden einigen sich auf einen Mittelweg oder Ausgleich zwischen ihren Positionen.
4. Dominante Intervention durch Dritte
– Eine außenstehende Person (z. B. eine Autorität) greift ein und setzt eine Lösung durch.
5. Rückzug
– Eine oder beide Parteien ziehen sich aus dem Konflikt zurück, sei es, dass sie das „Schlachtfeld“ verlassen, sei es , dass sie auf das Gewollte zumindest temporär verzichten.
Wenn der Konflikt von den Beteiligten in dieser Form manifestiert wurde und kein Stopp-Mechanismus von einer der Beteiligten Personen initiiert wurde, geht es über zum Sachkonflikt.
Charakteristika des Sachkonflikts:
1. Es geht um eine konkrete Frage, ein Thema oder eine Entscheidung, z. B.:
„Welcher Vorschlag ist wirtschaftlich sinnvoller?“
„Wie sollen Ressourcen verteilt werden?“
„Wer übernimmt welche Aufgabe?“
2. Fokus auf Inhalte, nicht Personen
Die Auseinandersetzung ist sachorientiert: Argumente, Daten, Fakten stehen im Vordergrund. Persönliche Angriffe oder emotionale Aufladungen sind (noch) gering.
3. Klärbar durch Kommunikation oder Faktenprüfung
Sachkonflikte lassen sich oft durch:
– Informationseinholung
– Fachliche Diskussion
– Verhandlung oder Moderation
lösen.
4. Lösungsorientierung besteht noch
Die Beteiligten sind meist offen für Kompromisse oder gemeinsame Entscheidungsfindung.
5. Beteiligte erkennen die Legitimität der anderen Sichtweise an
Es besteht (noch) gegenseitiger Respekt: Man hält den Standpunkt des anderen für möglich oder nachvollziehbar, auch wenn man ihn nicht teilt.
In meinem Beispiel ist aber bereits der Keim angelegt für die nächste Eskalation, den Beziehungskonflikt. Indem B die Person A indirekt als Proleten bezeichnet, ist es wahrscheinlich, dass der Konflikt verhärtet. Es geht über in eine Anschuldigungskommunikation. Es rücken Verhalten und Person in den Brennpunkt.
Charakteristika eines Beziehungskonflikts:
1. Negative Emotionen dominieren
– Ärger, Enttäuschung, Misstrauen oder Verletztheit spielen eine zentrale Rolle.
– Oft geht es um gekränkte Erwartungen oder verletzte Gefühle.
2. Fokus auf die andere Person, nicht auf die Sache
– Aussagen betreffen Charakter, Verhalten oder Absichten des Gegenübers, z. B.:
„Du hörst mir nie zu!“
„Du machst das absichtlich!“
– Die Konfliktbeteiligten erleben sich gegenseitig als Problem.
3. Kommunikation ist gestört
– Missverständnisse häufen sich, der Ton wird rauer oder es herrscht Funkstille.
– Sachargumente greifen nicht mehr – emotionale Reaktionen überwiegen.
4. Abwertung des Gegenübers
– Der andere wird negativ etikettiert oder abgewertet („unfähig“, „egoistisch“).
– Es entstehen feste negative Bilder oder Rollen (z. B. Täter-Opfer-Dynamiken).
5. Schwieriger Zugang zur Lösung
– Beziehungskonflikte sind schwer rational zu klären, weil sie tiefere Ebenen betreffen (z. B. Selbstwert, Anerkennung, Vertrauen).
– Die Bereitschaft zur Kooperation sinkt, häufig entsteht ein Vermeidungsmuster.
Wenn die Beteiligten die jeweils andere Person als Feind definiert, die vorwiegend Benachteiligungs- und Schädigungsabsichten verfolgt, haben wir das Stadium des Machtkonflikts erreicht. Mit einem immer mehr desselben dreht sich das Konfliktkarussel immer schneller.
Charakteristika eines Machtkonflikts:
1. Positionierung: Wer hat Recht, wer setzt sich durch?
2. Verlust der Kooperationsbereitschaft.
3. Bedürfnis nach Kontrolle oder Widerstand gegen Kontrolle.
4. Lösungsorientierung tritt in den Hintergrund.
Es wird klar: Konflikte bedürfen einer frühzeitigen Bearbeitung. Das beste Mittel hierfür ist die Mediation. Sie kommt ohne Gewinner und Verlierer aus. Lösungen werden anhand der beiderseitigen Interessen und Bedürfnisse von den Beteiligten selbst entwickelt. Daher ist auch eine Knfliktlösung durch Mediation nachhaltig.