„Es könnte auch anders sein“ – Warum Kontingenz der Schlüssel zur Verständigung ist

„Es könnte auch anders sein“ – Warum Kontingenz der Schlüssel zur Verständigung ist

In Konflikten scheint die Welt oft schwarz oder weiß: Ich habe recht, du hast unrecht. Punkt. Doch Mediation lebt von einer anderen Denkweise – einer, die Zwischentöne zulässt, Perspektiven öffnet und neue Möglichkeiten entstehen lässt. Das Zauberwort dafür heißt Kontingenz.

Was heißt eigentlich Kontingenz?

Kontingenz bedeutet, dass etwas so ist, wie es ist – aber auch anders sein könnte. Der Begriff stammt aus der Systemtheorie, insbesondere von Niklas Luhmann. Er beschreibt eine Wirklichkeit, die weder zwingend notwendig noch völlig zufällig ist, sondern möglichkeitsoffen. Das klingt theoretisch – ist aber in der Mediation hochpraktisch. Denn wenn Konfliktparteien erkennen, dass ihre Sichtweisen nicht die Wahrheit, sondern eine mögliche Deutung sind, öffnet sich ein Raum für Dialog und Veränderung.

Kontingenz als Haltung

Für Mediator:innen bedeutet Kontingenz eine grundlegende Haltung
Ich gehe davon aus, dass jede Wahrnehmung Sinn ergibt – im jeweiligen Kontext. Statt zu fragen, wer recht hat, interessiert mich, wie jemand zu seiner Sichtweise kommt.

Diese Haltung drückt sich in Fragen aus wie:

  • „Wie ist das für Sie geworden, dass Sie das so erleben?“

  • „Könnte es auch eine andere Erklärung geben?“

  • „Wie würde es sich anfühlen, wenn Sie annehmen, dass die andere Seite es nicht böse meint?“

Solche Fragen sind keine rhetorischen Kunstgriffe. Sie öffnen das Denken. Sie laden dazu ein, die eigene Wirklichkeit nicht absolut zu setzen – und genau darin liegt die Chance auf Verständigung.

Kontingenz gegen Konflikttrance

In der Konfliktforschung spricht man oft von einer Konflikttrance: einem Zustand, in dem Menschen innerlich verengt sind. Alles wird durch die Brille des Ärgers oder der Verletzung wahrgenommen. Der Gedanke „es könnte auch anders sein“ wirkt in dieser Situation wie ein Weckruf. Wenn Mediand:innen erkennen, dass das Verhalten des Gegenübers nicht zwingend böse, sondern vielleicht Ausdruck eigener Bedürfnisse oder Ängste ist, entsteht Empathie.
Und Empathie ist die Grundlage jeder Annäherung.

Kontingenz schafft Wahlfreiheit

Wo vorher nur Entweder-oder war, entsteht plötzlich Sowohl-als-auch. Kontingenz bedeutet, mehr als eine Möglichkeit zu haben. Das gilt nicht nur für die Wahrnehmung, sondern auch für das Handeln. Wenn etwas auch anders sein kann, dann kann ich mich auch anders verhalten. Ich muss nicht automatisch reagieren, wie ich es immer tue.
Ich kann wählen, wie ich antworte, wie ich mitspreche, wie ich Grenzen setze. Diese Erfahrung ist zutiefst befreiend – und einer der stillen Wendepunkte, die in einer gelungenen Mediation oft passieren.

Der Möglichkeitsraum der Mediation

Mediation ist damit kein Verfahren, das bloß Streit schlichten will. Sie ist ein Raum der Kontingenzerfahrung. Ein Ort, an dem das starre „so ist es“ weichen darf und Platz macht für „so könnte es auch sein“. In diesem Raum entstehen neue Geschichten, neue Bedeutungen und schließlich auch neue Lösungen. Kontingenz ist also keine abstrakte Idee, sondern das Herzstück jedes mediativ gestalteten DialogsDenn wer versteht, dass Wirklichkeit nicht fix ist, sondern gestaltet werden kann, hat den ersten Schritt aus dem Konflikt schon getan.


Fazit:
Kontingenz bedeutet, die Welt mit neugierigen Augen zu betrachten.
Sie lädt uns ein, Unterschiede nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung zu sehen.
Und sie erinnert uns daran, dass Verständigung nur dort beginnt, wo wir uns trauen, die Möglichkeit des Anderen mitzudenken.

Gerfried Braune

Assessor jur. & zertifizierter Mediator Ringstr, 49, 66130 Saarbrücken, Telefon +49 6893 986047 Fax +49 6893 986049, Mobil +49 151 40 77 6556

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