Allparteilichkeit in der Mediation: Mehr als nur Neutralität
Allparteilichkeit wird sehr oft unmittelbar im Zusammenhang mit der Neutralität des Mediators oder sogar als Synonym benutzt. Neutralität und Allparteilichkeit bezeichnen jedoch sehr unterschiedliche Anforderungen an Mediatoren.
Was ist Neutralität? Gemeint ist damit zunächst die persönliche Neutralität. Das heißt, dass die/der Mediator*in keine besondere Nähebeziehung zu den Mediand*innen haben und auch von den Mediand*innen unabhängig sind. Die Anforderungen hierzu sind im Mediationsgesetz geregelt. Zweiter Gesichtspunkt ist die Verfahrensneutralität. Die/der Mediator*in ist im Verfahren neutral, wenn sie die Parteien nicht bevorzugt oder zurücksetzt. Selbstverständlich überprüfen Mediator*innen während einer Mediation ständig, ob sie wirklich neutral sind. Zur Neutralität gehört auch, dass sich ein Mediator nicht in den Konflikt einmischt, eigene Lösungsvorschläge präferiert und die Parteien gleich behandelt. Der Mediatorenkollege Adrian Schweizer hat es einmal so ausgedrückt: „Als Mediator bin ich meinungslos!“.
Demgegenüber geht Allparteilichkeit weiter. Allparteilichkeit geht tatsächlich auch darum, dass der Mediator jede Partei versteht, ohne notwendigerweise mit deren Sichtweise oder Position einverstanden zu sein. Der Mediator muss in der Lage sein, die Perspektiven der Parteien einfühlsam nachzuvollziehen, um eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen und den Dialog zu fördern. Dies ist ein wesentlicher Aspekt der Allparteilichkeit, da der Mediator die Interessen, Bedürfnisse und Emotionen beider Seiten anerkennen sollte, um sie zu einer gemeinsamen Lösung zu führen.
Dabei ist es wichtig zu betonen, dass der Mediator nicht zwingend die Positionen oder die Sichtweise einer der Parteien teilen muss, sondern nur ihre Gefühle, Sorgen und Perspektiven versteht und respektiert. Diese Haltung ist entscheidend, um sicherzustellen, dass sich alle Parteien gehört und respektiert fühlen, was insbesondere bei asymmetrischen Konflikten oder schwierigen Verhandlungen von Bedeutung ist. Im Einführungsgespräch einer neuen Mediation erzähle ich immer folgende (von mir etwas abgewandelte) Geschichte von Hodscha Nasreddin: Als Nasreddin Kadi (Richter) in seinem Dorf war, kam eines Tages ein Nachbar zu ihm, der über einen Konflikt mit einem anderen Nachbarn berichtete. Als er den Nachbarn verabschiedete, sagte Nasreddin zu ihm: „Ich verstehe, dass Du Dich im Recht fühlst.“ Kurz darauf kam auch der andere Nachbar zu Nasreddin und erzählte ihm die Geschichte nun aus seiner Sicht. Beim Verabschieden sagte Nasreddin auch zu diesem Nachbarn: „Ich verstehe, dass Du Dich im Recht fühlst.“ Wenig später kam die Ehefrau von Nasreddin aus der Küche, die alles mit angehört hatte: „Nasreddin! Du must verrückt sein! Einmal gibst Du dem einen recht, dann dem anderen.“ Nasreddin darauf hin: „Ich verstehe, dass Du Dich im Recht fühlst.“
Stell dir vor, du und eine andere Person gehen nebeneinander durch einen Wald. Beide sehen den Wald, aber jeder von euch nimmt ihn anders wahr:
Du siehst die bunte Vielfalt der Blumen und das fröhliche Zwitschern der Vögel, während du das Gefühl der Ruhe und des Friedens genießt. Für dich ist der Wald ein Ort der Erholung und Freude.
Dein Begleiter sieht vielleicht eher die dunklen Schatten der Bäume und fühlt sich von der Stille des Waldes eher angespannt. Er könnte sich Sorgen machen, den richtigen Weg zu finden oder an die Gefahren des Waldes zu denken, auch wenn du diese nicht wahrnimmst.
Obwohl ihr beide physisch im gleichen Wald seid, lebt jeder in einer anderen Wirklichkeit – deine Wahrnehmung ist von den positiven Aspekten des Waldes geprägt, während die Wahrnehmung des anderen von Unsicherheiten und Ängsten bestimmt wird. Beide Wahrnehmungen sind gültig, aber sie unterscheiden sich stark, weil jeder Mensch durch seine eigenen inneren Filter die Welt wahrnimmt.
Deshalb ist in der Mediation Allparteilichkeit des Mediators eine notwendige Voraussetzung, um die Medianden in ihrer eigenen Wirklichkeit abzuholen.
Zusammengefasst:
- Neutralität bedeutet, dass der Mediator keine Partei bevorzugt oder einnimmt und persönlich unabhängig ist .
- Allparteilichkeit geht weiter und beinhaltet, dass der Mediator aktiv beide Parteien versteht, ohne sich notwendigerweise mit deren Sichtweise identifizieren zu müssen. Der Mediator schafft eine Atmosphäre des Verständnisses, in der beide Seiten sich gehört und respektiert fühlen.
- In diesem Sinne ist die Allparteilichkeit also eine tiefergehende Form der Neutralität, bei der der Mediator nicht nur objektiv bleibt, sondern auch die Emotionen und Perspektiven der Parteien mit Empathie und Verständnis aufnimmt, um den Konflikt aufzulösen.